Kiew – die Mutter aller russischen Städte
Kiew an einem TagIm Rahmen unserer Urbexplorer Tour nach Tschernobyl im September 2017 hatte ich die Gelegenheit, Kiew, die Mutter aller russischen Städte, für einen Tag zu besuchen.Kiew ist seit der Unabhängigkeit 1991 die Hauptstadt der Ukraine und mit ihren 2,9 Millionen Einwohnern auch die größte Stadt des Landes. Wer schon einmal in Moskau war, wird mir zustimmen. Kiew sieht aus wie die kleine Schwester. In den Außenbezirken erkennt man noch die Nachwirkungen des zweiten Weltkrieges – die Stadt wurde stark zerstört. Und leider ergibt sich nach meinem Eindruck kein Plan für die städtebauliche Konzeption bzw. Entwicklung. 50er und 70er sowie ultramoderne Gebäude geben sich ein wildes Stelldichein ohne irgendeine Logik. So wirklich schön ist das nicht.
Einen schönen Blick auf den Dnepr hat man von den Hügeln des Nationalen Museums für Geschichte der Ukraine im südlichen Außenbezirk des Stadtteils Petschersk. Hier bekommt man auch ein Gefühl dafür, wie stolz und verbunden die Ukrainer mit Ihrem Land sind. Die Mutter-Heimat-Statue im Zentrum der Anlage ist die besucherstärkste Sehenswürdigkeit und wacht über Land und Leute.Nicht weit entfernt befindet sich das Kiewer Höhlenkloster. Der Klosterkomplex ist UNESCO-Weltkulturerbe und beherbergt eine Vielzahl von wunderschönen Kirchen und Museen und ist unbedingt sehenswert.Am Abend ging es dann auf den Majdan oder richtigerweise Majdan Nesaleschnosti. Denn Majdan bedeutet Platz oder Marktplatz. Der Ort erlangte Berühmtheit durch die Orange Revolution im Jahr 2004. Auch 2013 und 2014 war er Versammlungsort für den politischen Protest. Heute erinnert direkt auf dem Platz nichts mehr an diese Zeit. Im Umreis des Majdan gibt es aber Fotos der Gefallenen an denen Blumen abgelegt werden. Panzersperren hier und da zeigen, dass die Konflikte noch nicht lange her sind.Leider hatte ich nur einen Tag Zeit, um Kiew kennenzulernen. Ich komme aber auf jeden Fall noch mal wieder, versprochen. Es sind ja nicht nur die Straßen und historischen Orte, die eine Stadt oder Region ausmachen, sondern auch die Personen. Und diese waren mir auf Anhieb sympatisch.
Eine kleine Anekdote am Rande: Auf dem Weg in die Metro überholten uns zwei Jungs, vielleicht 15 oder 16 Jahre alt, in rasendem Tempo. Der eine nahm verbotenerweise die stillgelegte nach unten führende Rolltreppe (sehr tief nach unten gehend…), der andere stoppte die Zeit. Unten angekommen, gab es einen lautstarken „Anschiss“ von der Kontrolleurin, die ihn aufforderte, wieder nach oben zu laufen und die richtige Rolltreppe zu nehmen. Wir kamen aus dem Grinsen nicht mehr raus. Die Jungs haben sich dann auch kleinlaut entschuldigt. Im Zug bot der Junge dann einem älteren Herrn von sich aus seinen Platz an. So geht es also auch.
Dich sprechen die Fotos und/oder Texte an und Du bist an einer Kooperation interessiert? Dann melde Dich gern bei mir.
Grit Lezovic
Fotografin
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Tschernobyl – Reise zu den Geistern
Damals…Im April 1986 – ich 17 Jahre alt und im ersten Ausbildungsjahr an einer Berufsschule mit Internat im Osten von Berlin. Wir hörten heimlich auf den Zimmern West-Radio. Der RIAS war problemlos zu empfangen und hatte die bessere Musik. Daher lief das Radio am Sonntagabend. In den Nachrichten brachten sie eine Mitteilung über einen Reaktorunfall in der Sowjetunion. Wir diskutierten an diesem Abend lange über die Situation und wussten, dass dieser Unfall auch Einfluss auf unser jetziges und zukünftiges Leben haben wird. Von den DDR-Medien war zu dieser Zeit nichts darüber zu hören. Es wurde totgeschwiegen.Nächster Montagmorgen – erste Stunde Sport. Unser Lehrer, ein ehemaliger NVA-Offizier, verordnete 5 km Waldlauf unter dem Motto: „Nicht dass ihr denkt, ich schere mich um die aktuelle Lage. Frische Luft ist gesund!“ Mehr wurde darüber nicht gesprochen und das Thema generell unter den Tisch gekehrt. Ich weiß nicht, ob diese Sportstunde einen Einfluss auf meine Gesundheit hatte. Ich habe noch viele Jahre danach Joggen mit diesem Ereignis verknüpft und es gehasst.Bei uns war die Welt also auch danach noch in Ordnung. In Westberlin und der BRD nicht. Plötzlich gab es Unmengen an frischem Gemüse: Grüner Salat und Gurken – im Frühjahr! Jeder wusste, dass in Westdeutschland Niemand das (offensichtlich) verstrahlte Gemüse und Obst anrührte. Wir auch nicht. Es war eine Zeit der Gerüchte und Vermutungen und wir hatten Angst. Was würde die Zukunft bringen?Die DDR war bis 1989 in permanenten Kriegszustand. Das erfuhr ich allerdings erst nach der Wende. Mit 14 lernten wir, wie ein sicherer Unterschlupf für den Katastrophenfall zu bauen ist. Mit 16 robbten wir mit Gasmasken durch die Natur – eine Kombination aus Survivals- und Pfadfindertraining. Mit dem kalten Krieg lernten wir umzugehen. Eine Katastrophe durch die „guten“ Atome – das war nicht vorgesehen. Das Unglück von Tschernobyl wurde zur größten technologischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts.Heute…31 Jahre später mache ich mich mit 11 anderen Unerschrockenen auf den Weg nach Tschernobyl. Das Gebiet ist in zwei Zonen eingeteilt. In der 30 km Zone leben noch ca. 2000 Menschen, die hauptsächlich im Kraftwerk arbeiten. Hier ist auch das einzige Hostel zu finden, in dem wir zwei Nächte verbringen. In der 10 km Zone liegt die heutige Geisterstadt Pripyat, ca. 4 km entfernt vom Reaktor 4. Vor der Katastrophe muss Pripiyat eine sehr lebenswerte Stadt für ihre 50.000 Einwohner gewesen sein: Ein nie fertig gestelltes Stadion, eine Schiffsanlegestelle, Kino, Kulturhaus, Schwimmbad, Rummelplatz sowie zahlreiche Sporthallen, die Einwohner hatten viele Möglichkeiten. Heute sehen noch viele Häuser aus wie am Tag der Evakuierung, trotz Plünderungen und Vandalismus.
Heute ist die radioaktive Strahlung direkt am Reaktor in einem akzeptablen Bereich
Im Krankenhaus stehen die Babybetten in Reihe als wäre nichts passiert. Wir wandern über kaum erkennbare Straßen und Wege. Die Natur hat sich Raum zurückerobert. Die einstige Hauptstraße ist mit Bäumen und Sträuchern zu gewuchert und nicht mehr erkennbar. Wenn man mit den Füßen das Laub und den Humus wegschiebt, kommt der Beton zum Vorschein. Es ist still, sehr still. Nur vereinzelt hört man ein Zwitschern. Wo sind die Vögel? Bienen und Wespen sucht man ebenfalls vergebens. Das leise Ticken des Messgerätes am Hosenbund wird nur ab und zu unterbrochen von einem hektischen Fiepen, wenn die radioaktive Strahlung über dem Grenzwert liegt. Hier kann ich mich nicht auf meine Sinne verlassen. Denn radioaktive Strahlung kann man nicht riechen, sehen oder schmecken. Ich laufe quasi blind durch die Gegend. Tiere sollen die Gefahr ja spüren, ich verlasse mich auf den Geigerzähler. Tatsächlich ist die Strahlung unregelmäßig. Es gibt sogenannte Hotspots, die schlimmsten sind mit einem Warnschild versehen. Die Hauptwege und umliegende Gebäude wurden dekontaminiert, so dass man sich gefahrenfrei bewegen konnte.
In drei Tagen, nach vielen Kilometern Weg und etlichen Stockwerken sind mir die Schicksale der Menschen in Pripyat und Umgebung näher. Ich wünschte ich könnte mich nur für einen Augenblick 35 Jahre in die Vergangenheit zurück beamen und Szenen des täglichen Lebens beobachten. Besonders stark ist dieses Gefühl im Kindergarten. Hier stehen noch die Spielzeugautos auf dem Tisch und Kinderschuhe im Schrank. Es muss ein schönes Gebäude gewesen sein – offen und hell.Abends ab 18 Uhr gehört Pripyat wieder den Geistern. Niemand darf sich über Nacht dort aufhalten. Bevor wir die 10 km Zone verlassen, werden Fahrzeug und Mensch auf Radioaktivität untersucht. Nach 3 Tagen haben wir eine errechnete Gesamt-Strahlendosis von ca. 29 Microsievert aufgenommen. Gut, dass in diesem Jahr kein Langstreckenflug mehr ansteht.
Die Reise wurde organisiert von urbexplorer.com und fand im September 2017 statt. Marek & Marek – herzlichen Dank für die tolle Organisation.
Dich sprechen die Fotos und/oder Texte an und Du bist an einer Kooperation interessiert? Dann melde Dich gern bei mir.
Grit Lezovic
Fotografin
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